Brutalistischer Kirchturm in Freiburg zu Wohnungen umgebaut

2021-12-22 10:15:25 By : Ms. Lily Wang

Mit dem Umbau eines 22 Meter hohen ehemaligen Kirchturms in Freiburg im Breisgau wurde ein architektonisches Kleinod des Brutalismus gerettet. Seine 200 Quadratmeter Fläche über fünf Etagen sollen künftig als Apartments – auch für temporäre Gäste – dienen und zudem Raum für Ausstellungen, Lesungen und Empfänge bieten.

Seit Jahren schweigt die Glocke und in der Kirche wird keine Messe mehr gelesen. Über viele Jahre blieb der trutzige Glockenturm der ehemaligen Kirche St. Elisabeth in Freiburg-Zähringen ungenutzt. Doch nun hat ihn die Filmarchitektin und Designerin Ingrid Maria Buron de Preser wiederbelebt – als  Bauherrin, Planerin und Bauleiterin.

„Ich habe den Turm gesehen und war sofort Feuer und Flamme.“ 2014 war das, da hatte Ingrid Buron den Turm in Freiburgs Offenburger Straße entdeckt. Zwei Jahre dauerten die Vorarbeiten, 2016 begann die konkrete Planung, und 2018 erfolgte der Baubeginn.

Ursprünglicher Erbauer der Kirche St. Elisabeth mitsamt ihrem Turm war Rainer Disse, einer der wichtigsten Kirchenarchitekten im deutschen Nachkriegssüdwesten. Der Egon Eiermann-Schüler errichtete die Kirche in den Jahren 1962 bis 1965 im Stil des Brutalismus.

Dieser oft missverstandene Baustil hatte sich – vor allem bei öffentlichen Bauten – ab den frühen 1960er Jahren weltweit durchgesetzt. Seine Protagonisten waren Architekten, die vom Krieg – nicht selten von zweien – geprägt waren. Mit ihren rohen, unverkleideten Betonbauten versuchten sie, moderne, kühne, klare Entwürfe in die vom Krieg zerstörten Städte zu bringen. Sie wandten sich damit gegen einen kleinbürgerlichen, die Geschichte verklärenden Wiederaufbau im Zeichen des Kitsches. Die neuen Gebäude sollten höchst pragmatisch, sozial und demokratisch sein. Der Brutalismus war ein politisches Projekt.

Der Name hat im Übrigen nichts mit Mitleidlosigkeit zu tun, sondern leitet sich vom französischen „béton brut“ her, dem rohen, unverputzten Baustoff. Denn auch Putz und Farbe erklärte der Brutalismus zu überflüssigem Ornament und Dekoration.

St. Elisabeth war ein Beispiel wie aus dem Brutalismus-Lehrbuch: unverputzt gemäß dem Prinzip der sichtbar gemachten Konstruktion, ungeschmückt im Sinne von „nicht elitär“, kompromisslos modern mit entschiedenem Gestus gegen alles Historisierende. Wobei die vertikalen Abdrücke der Brettschalung dem rohen Betonkörper eine Textur verleihen, die das Aufwärtsstrebende des Turms mit fast schon an die Gotik erinnernder Emphase in Szene setzt.

St. Elisabeth war ein Kind ihrer Zeit. Aufs Wesentliche konzentriert. Das Kirchenschiff: ein Quader mit Flachdach. Dazu ein freistehender Turm. Alles äußerst reduziert, fast schon asketisch, ohne jeden Zierrat.

2006 wanderte die Kirchengemeinde endgültig in die benachbarte Kirche St. Konrad ab. St. Elisabeth wurde profaniert und stand leer. Verschiedene Umnutzungsversuche scheiterten, ehe das Kirchenschiff unter dem eigenwilligen Projektnamen „Church-Chill“ in einen Wohnbau umgeformt wurde. Der ursprüngliche Baukörper wurde hierfür um zwei Etagen aufgestockt. Die West- und die Ostfassade blieben weitgehend erhalten, die beiden anderen wurden großflächig geöffnet. Das Pfarrhaus musste weichen, die Appartements wurden 2013 verkauft. Eines davon ging an Gregor Disse, den Sohn des Architekten.

Der Turm blieb vorerst ungenutzt stehen und musste seine Glocke hergeben. Die 600 Kilogramm schwere „Cecilia“ ruft heute in Tansania Gläubige zum Gebet.

Doch dann kam Ingrid Maria Buron de Preser. Sie überzeugte die Stadt und die Landesdenkmalbehörde, Gregor Disse und die Immobilienfirma, die das Kirchenschiff umgestaltet hatte, und sie begeisterte die Anwohner. Vor allem aber begann sie mit der Planung und ließ sich nicht abschrecken. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem im Sommer 2019 verstorbenen Fotografen Gerd Preser, erforschte sie den Turm und klopfte ihn auf künftige Nutzungsmöglichkeiten ab – ohne dabei Verrat an seiner ursprünglichen Idee zu üben.

„Die Bewahrung der Schönheit“ – so nannte Buron de Preser ihr Umbau- und Sanierungsprojekt schließlich . Im August 2018 ging es los.

Der monolithische Quader von sieben mal sieben Metern Grundfläche und 22 Metern Höhe war ursprünglich fensterlos. Lediglich vier schmale Lichtschlitze verwandelten das Dunkel der Glockenstube in Dämmerung. Diese Spalten mussten verbreitert werden. Zudem war es unumgänglich, in den anderen vier Stockwerken Fenster einzuschneiden.

Die Ausweitung der Lichtschlitze auf 40 Zentimeter breite, bodentiefe Fenster war ein beeindruckendes Unterfangen. Der Spezialbetrieb Karlheinz Hug aus dem nahen Simonswald setzte dafür schienengeführte und handgeführte Diamantsägeblätter ein und vollbrachte das Kunststück, 7,5 Meter lange Stelen an einem Stück aus den massiven Betonwänden zu schneiden und diese dann auch noch durch das kleine Oberlicht in der Decke der Glockenstube zu manövrieren. Dank einer besonders erschütterungsfreien Technik gelgangen die Schnitte bis zu einer Wandstärke von 65 Zentimetern nahezu ohne Toleranzen.

Auf die Betonschneider folgten weitere Fachhandwerker; Fenster wurden eingebaut, manche Räume mit einer Innendämmung versehen, Böden geschliffen, Elektrik- und Sanitäreinrichtungen installiert. Knifflig wurde es nochmals, als der Treppenschacht eingebaut wurde, da er die Statik des Turms veränderte und Ausgleichsmaßnahmen an anderer Stelle verlangte.

Wer der freundlichen Aufforderung „Kommen Sie doch bitte herein“ folgt, steht mit einem Schritt in der Erdgeschosskapelle. Jener Raum, der in der Vergangenheit als einziger kontinuierlich genutzt wurde, wird noch immer vom schmucklosen monolithischen Altarstein dominiert. Daneben prägen heute aber den Raum eine einladende Tafel, eine kleine offene Küche, ein Sanitärräum, der Zugang zum Treppenhaus und – in etwa drei Metern Höhe – ein Alkovenzimmer wie in einem Bühnenbild. Das alles kontrastiert intensiv mit den rauen Betonwänden und den 1,5 mal 1,5 Meter großen Marmorfliesen.

In den nächsten drei Stockwerken des ehemaligen Kirchturms befinden sich je 40 Quadratmeter große Gästezimmer. Da der Kirchturm im Süden und Osten von großen, alten Bäumen umwogt wird und exakt an diesen Stellen die Fenster eingeschnitten wurden, fühlt man sich dort fast wie in einem Baumhaus.

Der Ausbau und die Gestaltung der Räume unterstützen diesen Eindruck. Die Wände sind teilweise von Künstlerinnen bemalt, die Räume zwar spärlich, aber ausgesucht möbliert, wobei den Sichtachsen hinaus ins Grün große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Denn diese Zimmer sollen „Kraft-Orte sein“, Refugien für Menschen, die zur Ruhe kommen wollen und ihre Batterien aufladen möchten: Wohn- und Arbeitsorte auf Zeit.

Darüber hinaus plant Buron de Preser, den Turm zu öffnen für Menschen mit Interesse an Architektur, Kunst, kurzum: an Schönheit. So soll der massive Betonquader in einen „Ort der Leichtigkeit“ transformiert werden. Ausstellungen, Lesungen und Empfänge könnten vor allem die einstige Kapelle und die Glockenstube beleben.

Der 63-stufige Aufstieg im einstigen Kirchturm führt von der „schweren“ Erdgeschoss-Kapelle durch die laubumtanzten Natur-Räume bis zur „himmelsnahen“ Glockenstube. Der überstreckte Raum hat eine Grundfläche von 6,5 mal 6,5 Metern, und von seinem dunklen, glattgeschliffenen Betonboden bis zur Decke sind es acht lichte Meter, die vom endlos lang erscheinenden Rauchrohr einer freihängenden, offenen Feuerstelle noch betont werden. Der Raum hat seine sakrale Atmosphäre behalten, unwillkürlich spricht man gedämpft. Obwohl an die südliche Wand gerückt, verleiht der Kamin dem Raum einen Mittelpunkt. Wie die Feuerschalen antiker Tempel oder das ewige Licht in einer Kathedrale erinnert die Inszenierung an das Verhältnis des Feuers zum Sakralen.

Ingrid Maria Buron de Preser hat dieses Spiel mit dem „göttlichen Funken“ sehr bewusst in Szene gesetzt: „Ein offenes Feuer im Haus ist für mich die Basis, der Anfang von allem.“ Mit der Firma Benz Ofenbau aus Ohlsbach fand sie einen technischen Partner, der ihre Wünsche verstand. So konnte der freihängende, drehbare Designklassiker „Gyrofocus“ auch mit einem 7,5 Meter langen Rauchrohr von der Decke abgehängt werden. Die geschwungenen Formen des Focus-Kaminofens kontrastieren die strenge kubische Architektur, wobei die Reduktion auf den puren Stahl mit dem rohen Beton korrespondiert.

So wie die Glocke einst im Mittelpunkt der sakralen Nutzung des Kirchturms stand, ist der Kamin jetzt das Zentrum des profanierten Baus. Der Gyrofocus stand Buron de Preser bereits vor Augen, als sie das erste Mal über die mit Vogelkot verschmierte Sprossenleiter in die Glockenstube geklettert war. An den Arbeiten von Kamindesigner Dominique Imbert hatte ihr immer schon gefallen, dass dieser „Vision und Passion“ lebt. Dass er nie nachließ, Handwerk, Kunst und Design zu verknüpfen. Als der Gyrofocus dann endlich hing und zum ersten Mal ein Holzfeuer in ihm brannte, fühlte sie sich bestätigt: „Kein anderer wäre gegangen.“

Der Umbau des Turms ist eine beeindruckende Hommage an den „béton brut“. Nun dürfen sie kommen – die Kunst- und Architekturfreunde, die Gäste, auch wenn noch nicht alle Arbeiten abgeschlossen sind, denn auf dem Flachdach soll noch eine Terrasse entstehen, die nicht nur begehbar, sondern bepflanzbar sein wird; Urban Gardening in Freiburg mit einem Hochbeet der besonderen Art.

Im Moment überwiegt die Erleichterung, dass die Verwandlung des Turms gelungen ist. Vielleicht ist das auch der geeignete Moment darüber nachzudenken, nicht nur die „Betonmonster“ zu retten, sondern auch den Geist, dem sie entstammen, neu zu entdecken: ehrlich, solidarisch, einer besseren Zukunft zugewandt.

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