AKW Stade: Wie zersägt man ein Atomkraftwerk? - WELT

2021-12-22 10:16:32 By : Ms. Heny pei

D ie entscheidende Stelle ist rund, drei Meter dick und liegt unter einem weißen Zelt: grauer Betonboden, der sich äußerlich nicht unterscheidet von den Wänden im sogenannten Splitterschutzzylinder unter der Kuppel des Reaktors. Doch im Atomkraftwerk Stade steckt der Teufel im Detail. Niemand vermag bisher mit Sicherheit zu sagen, wie stark der Boden radioaktiv belastet ist.

„Einiges spricht dafür, dass wir es nur mit homöopathischen Mengen zu tun haben, die punktuell, aber nicht flächendeckend auftreten“, sagt der Strahlenschutzbeauftragte Ralf Thalinger. „Aber erst, wenn wir das Fundament aufgebohrt haben, gibt es Gewissheit.“

Was ist passiert? Anfang 2014 wurde bei Messungen im Sockel des Reaktorgebäudes radioaktiv kontaminiertes Wasser entdeckt. Versickert ist es vermutlich schon kurz nach Inbetriebnahme des Kraftwerks 1972. Das verzögert den Rückbau des Meilers – um mindestens drei Jahre. Frühestens Ende 2017 sollen die Arbeiten nun so weit abgeschlossen sein, dass das Gelände aus der Atomaufsicht entlassen werden kann.

„Wir müssen den Betonsockel unter kontrollierten Bedingungen abtragen. Erst danach können wir neu messen, um zu beurteilen, wie hoch die Strahlung ist“, erklärt der Leiter des Kraftwerks, Michael Klein. Erste Bodenproben hatten bis zu 174 Becquerel pro Gramm zutage gefördert – zu viel für eine Freigabe zur Entsorgung.

Das Kernkraftwerk Stade, 2003 vom Netz gegangen, wird als erster Reaktor seit dem Atomausstieg zurückgebaut. Daran sind 400 Beschäftigte beteiligt, 300 von ihnen aus Fremdfirmen.

Seit elf Jahren steht die Leistungsanzeige des Generators auf null, eingerahmt von einem schwarzen Trauerflor, den die Belegschaft gestiftet hat. Die beiden Mitarbeiter in der Leitzentrale wollten eigentlich Ende des Jahres in den Ruhestand gehen, stehen aber bereit, falls sie länger gebraucht werden. „Darüber kann man ja reden“, meinen sie.

Es ist laut im Inneren des Reaktorgebäudes. Ununterbrochen laufen die Motoren der Lüftung, damit es staubfrei bleibt. Die Szene erinnert an eine Großbaustelle mit vielen Gerüsten.

Der Abstieg in den 15 Meter tiefen Sockel führt über 60 Treppenstufen, dort ruhen 22.000 Tonnen Beton. „Daraus filtern wir rund 600 bis 1000 Tonnen potenziell radioaktiven Abfall heraus, zusätzlich zu den bisher erwarteten 4000 Tonnen“, erklärt Thalinger.

Der Beton wird mit Diamantseilsägen zerlegt, Stückpreis: 40.000 Euro. Ein Meter Seil kostet 150 Euro. „Um das geborgene Material abzutransportieren, muss noch ein neuer Kran im Sicherheitsbehälter montiert werden“, sagt Thalinger. Der Kran werde die 20 Tonnen schweren Betonblöcke über eine Schleuse nach draußen hieven.

Radioaktiv belasteter Abfall macht in der Gesamtmenge nur zwei Prozent aus. Rund 98 Prozent des Bauschutts sind unbelastet. Da die Entsorgung auf einer Deponie im sächsischen Grumbach auf Proteste stößt, sucht Betreiber E.on derzeit nach einem anderen Standort.

Ursprünglich hatte der Stromkonzern für den Rückbau des Stader Atomkraftwerks 500 Millionen Euro veranschlagt. Jetzt wird mit Gesamtkosten von einer Milliarde Euro gerechnet. Weil ein Endlager nicht zur Verfügung steht, müssen schwach- und mittelradioaktiv belastete Abfälle vorerst zwischengelagert werden – am stillgelegten Atomkraftwerk Stade, heißt es beim Betreiber.

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